Die Sammlung

 

Eine Kriminalnovelle

 

Im fremden Land

 

Die Tage verlaufen einer wie der andere. Morgens diese elende Kälte, die hier so trocken ist, dass die Haut bei der ersten Berührung mit dem Wasser knistert. Wenn Sven zur Frühschicht muss, dann kommt nichts aus dem Hahn. Der Tank im Container oder die Leitungen, irgendetwas ist wieder eingefroren. Die Techniker bekommen das einfach nicht in den Griff. Sven verzichtet auf das Waschen. Er reibt sich das Gesicht mit einem Schluck aus der Flasche ab. Das Wasser ist eiskalt.

Der Weg von der Unterkunft zur Auswertestelle ist nur kurz. So früh – die Sonne ist als heller Streifen im Dunst über den Bergen zu erahnen – ist das auch noch ungefährlich. Sven beeilt sich nicht sonderlich. Er mag dieses Bild: Der Dunst färbt sich immer schneller, erst schmutzig-gelb, dann ins Orange übergehend und plötzlich steht die glutrote Scheibe unscharf über den Bergen.

In der Nacht ist etwas Schnee gefallen. Eigentlich nur Krümel. Der graubraune Staub ist noch grauer geworden. Richtigen Schnee gibt es hier wohl nie. Sven zieht die kalte Luft tief in die Lungen. Dann, nach einem kurzen Zögern, öffnet er seufzend die Tür zum Container der Auswertestelle. Er klopft dem Diensthabenden, der vor seinem Pult eingeschlafen ist, auf die Schulter.

Stunden in der engen Bude erwarten ihn. Der Bildschirm flimmert manchmal. Der Strom ist nicht stabil. Im Container muffelt es nach Schweiß und anderen Ausdünstungen. Die Tür macht keiner auf. Es sind die Kälte, die Dienstanweisung und auch die Angst, von einem Splitter einer Rakete getroffen zu werden.

Wenn Sven im Camp unterwegs ist, horcht er gelegentlich, bevor er die Deckung verlässt, in die Weite rund um das Lager hinaus, ob er den dumpfen Ton eines Abschusses hören kann. Dann würde er in die Deckung zurücklaufen. Zweimal schon hat er den Einschlag erlebt. Einmal schlug die Granate in das Lebensmittelager ein. Die Wände der Container rund um die Einschlagstelle wurden von den Splittern durchlöchert. Das andere Mal schlug die Granate auf dem weiten Platz mitten im Camp ein. Einem dänischen Uffz musste das Bein amputiert werden. Er hatte die Warnungen ignoriert. Sven sah den Mann liegen. Eigenartigerweise war er von dem Anblick nicht berührt. Aber er geht seitdem immer, wenn die Lage unklar ist, in eine der Deckungen.

Bei den Patrouillen bleibt er, soweit es geht, im Fahrzeug. Einmal nur wurden sie bisher beschossen. Nachdem sie am Dorfrand angehalten hatten, sprach der Truppenführer mit den Menschen. Einige Kameraden sicherten. Die Granate zischte vor dem Fahrzeug vorbei und schlug in die gegenüberliegende Hauswand ein. Beim Aufschlag detonierte sie und riss ein riesiges Loch. Die Lehmwand bot nicht viel Widerstand. Der größere Teil der Wirkung ging in das Haus. Nur ein Kamerad wurde leicht verletzt. Er hatte einen Holzsplitter im Bein. Durch das Loch in der Hauswand war der Blick ins Innere möglich. Dort lagen die blutigen Körper von zwei Frauen und ein Kind saß stumm in der Ecke. Sven nahm mechanisch die Waffe in den Anschlag und zielte auf das freie Feld vor ihnen. In einiger Entfernung sprangen einige Männer durch das Feld. Sven und seine Kameraden nahmen die Verfolgung nicht auf. Sie blieben auf der Straße. Die Sanis stiegen durch die große Öffnung in das Haus und einer kam mit dem Kind im Arm zurück. Bei den Frauen war nichts mehr zu machen. Die Menschen standen stumm auf der Straße. Ein alter Mann kam und riss dem Sani das Kind aus den Händen. Dann wandten sich alle Einheimischen ab und verschwanden in den Gassen zwischen den Häusern. Außer ihren eigenen Kommandos hörten die Soldaten kein Wort.

Sven bewegt sich seitdem noch weniger aus dem Fahrzeug hinaus. Der Anblick der fremden Menschen, wenn sie durch die Straßen fahren, berührt ihn nicht. Kinder, vermummte Frauen, Händler, Bettler. Es ist eine fremde Welt. Eine Welt, in der Sven nicht zu Hause ist, die ihn abstößt wegen des Schmutzes, die er nicht versteht, die er auch nicht verstehen will. Sie bringen sich gegenseitig um. Die Leute gehen ihn nichts an. Und jeden Augenblick können sie eine Kalaschnikow unter ihrer weiten Kleidung hervorholen und auf ihn schießen, obwohl er ihnen nichts getan hat und ihnen auch nichts tun will.

 

Eine Durchsage holt ihn zurück in die Gegenwart: Eine Drohne ist gestartet worden. Die Bilder werden auf den Monitor übertragen. Es ist ein Testflug. Der Operator lenkt die Drohne von irgendwo mit der Hand. Bei Sven läuft nur die Aufzeichnung mit. Er hat damit nichts zu tun. Er starrt trotzdem auf den Schirm. Immer wieder das Gleiche: weite Flächen ohne jeden Bewuchs. Felsen, dann ein kleines Feld, eine Siedlung. Die hellen Flächen der Hausdächer mit ihren dunklen Innenhöfen. Kaum Menschen auf den Straßen um diese Zeit. Sie werfen lange Schatten, wenn sie nicht selbst im Schatten der Gasse sind. Alles ist grau und braun. Die Menschen sind sowieso nur an den langen Schatten erkennbar. Die Drohne fliegt entlang einer Straße. Es ist kaum Verkehr. Ein Truck. Die Auspuffgase verdecken die Sicht auf die Straße. Eine kleine Truppe aus Eseln und Menschen, die zu Fuß unterwegs sind. Auf einem der Esel liegt quer ein schmaler Gegenstand. Sven glaubt fast, ein MG erkannt zu haben. Sicher ein Irrtum. Die Drohne ist längst darüber hinweg. Dann eine Siedlung, fast wie die Reihenhaussiedlung zu Hause. Große Gärten hinter dem Haus. Dann Grün, bewässerte Felder. Die Kanäle schneiden die Fläche in gleichmäßige Rechtecke. Und dann ist die Drohne wieder über graubraunem Land. Sand, Felsen und Staub.

Sven beschließt, seine Unterwäsche nachmittags notfalls im kalten Wasser zu waschen. Es kommt einfach nichts ran. Sie kriegen das nicht in den Griff. Seit einer Woche drehen die Transporter ab und landen irgendwo in Usbekistan. Einzig eine gecharterte Antonow ist in dieser Woche wirklich hier gelandet. Die Pakete kommen nicht an und Wäsche wird nicht transportiert.

Sven bekommt einen Anruf vom Camp-Operator. Er soll sich nach seiner Schicht beim Kommandeur melden. Das ist nicht ungewöhnlich. Sicher eine Aufgabenstellung für eine Sonderaufklärung. Die Amis wollen mal wieder aufräumen und dazu brauchen sie Bilder von der Lage. Sven hat schon einige Male für seinen Hauptmann einspringen müssen. Und er hat auch schon anerkennende Worte vom Commander gehört.

 

Kurz vor dem Ende seiner Schicht kommen die Filme von den Tornados rein. Es ist wie immer dringend. Sein Hauptmann, der ihn hat ablösen sollen, ist nicht zur Schicht erschienen. Er wird wegen einer Magenverstimmung von den Sanis bemuttert. Wochenlang schon hat der Mann damit zu tun. Sven versteht ihn nicht. Der Hauptmann ist schon über fünfzig. Der könnte sich in die Heimat versetzen lassen. Die Behandlung wäre besser und wahrscheinlich reagiert der Magen auch nur auf das, was er hier nicht verkraftet. Aber bei der Bildauswertung hat Sven viel von ihm gelernt.

 

Sven hat nichts dagegen, noch eine Schicht dranzuhängen. In der Unterkunftsbaracke erwartet ihn nichts. Das Buch, das er sich aus der Bibliothek geholt hat, interessiert ihn nicht besonders. Es gibt keine ruhige Ecke, in der er am Tage vor sich hin dösen könnte. Nur mit den Kopfhörern und der Musik aus dem Walkman lassen sich solche Stunden ertragen. Aber die Batterien gehen zur Neige und der Nachschub kommt nicht ran.

Hier hat er eine Aufgabe, kann sich konzentrieren und die verdammte Zeit geht vorbei. Er braucht nicht an Zuhause zu denken, nicht an die Zeit danach, nicht mal an die Welt da draußen außerhalb des Camps.

Er wartet auf die entwickelten Filme. Es wird eine halbe Stunde dauern. Er geht hinüber zur Kantine. Wenigstens das Essen stimmt. Als er zurück ist, sind die Filme schon trocken auf seinem Tisch. Der diensthabende Offizier treibt ihn an. Die Amis warten auf die Auswertung.

Sven schiebt den Film in den Betrachter. Er schaut sich jetzt konzentriert Bild für Bild an. Die Tornados sind die Straße entlanggeflogen. Einige Autos, kurze Kolonnen von Trucks, Tankwagen, Pritschen mit riesigen Ballen, geschlossene Laster, bei denen nicht zu erkennen ist, was sie transportieren. Und viele Menschen, die zu Fuß unterwegs sind. Einige Stellen vergrößert er. Kann aber nicht wirklich etwas Interessantes finden. Auf keinem der Bilder ist irgendetwas Verdächtiges. Keine Waffen, keine Feuernester. Nicht einmal Militärfahrzeuge der eigenen Truppe. Nichts außer Straße, Sand, Felsen, Menschen, die irgendwelchen Tätigkeiten nachgehen. Sven zeichnet die Bilder in die Karte ein. Er schreibt seine Meldung und dann ist er fertig. Später wird er die Bilder noch einmal ansehen. Er wird auch dann nichts entdecken, aber so vergeht die Schicht schneller.

 

Der Commander residiert in dem einzigen festen Haus auf dem Camp. Er teilt sich die Unterkunft mit den Kommandeuren der anderen Einheiten, aber er hat ein Vorzimmer und er hat eine Schreibstube. Im Innenhof steht ein wasserloser Brunnen. Ganz am Anfang hat er noch Wasser geführt, aber dann ist entweder die Leitung zerschossen oder der Zufluss anderweitig unterbrochen worden. Niemand hatte es je untersucht.

Der Hauptfeldwebel im Vorzimmer winkt ihn gleich durch. Der Commander sitzt hinter seinem Schreibtisch und sieht sich Fotos an. Er legt sie sofort beiseite, als er Sven erkennt.

„Setzen Sie sich.“

Der Kommandeur ist sonst nicht so. Gewöhnlich steht Sven eine ganze Weile im Zimmer, bis der Oberst ihn geruht zu bemerken. Immer griesgrämig. Das faltige, wie von Sonne gebräunte Gesicht unterstützt den Eindruck. Kein Soldat hat ihn bisher lachen sehen. Er hat die Fünfzig überschritten. Warum der hier noch rumkriecht, fragt sich Sven. Aber der hat wenigstens früh eine Schüssel warmes Wasser.

„Ihr Vater ist verstorben.“ Der Oberst steht auf und reicht ihm über den Schreibtisch die Hand.

Sven bleibt sitzen.

„Mein Beileid“, sagt der Kommandeur kurz und setzt sich wieder. „Sie bekommen natürlich Heimaturlaub. Am Abend um 800 geht eine Kolonne zum Flugplatz.“

Der Kommandeur winkt dem Hauptfeldwebel ab, der in das Zimmer gekommen ist. Sven sitzt starr auf seinem Stuhl. Er blickt ungläubig auf den Kommandeur. Er rührt sich auch nicht, als der Oberst aufsteht und um den Schreibtisch herum zu ihm kommt und seine Hand auf Svens Schulter legt. „Ihre Papiere werden fertiggemacht. Darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern.“

Im hinteren Teil des Zimmers rattert das Faxgerät.

„Wissen Sie …“ Der Kommandeur hätte fast gesagt, wie viel leichter es so herum sei. Viel schwerer ist es, die Briefe zu schreiben an die Angehörigen: „Leider müssen wir Ihnen mitteilen …“ Aber es sind seine Gedanken und er nimmt die Hand von Svens Schulter.

Das Faxgerät piept. Das Papier ist alle.

Sven erwacht aus seiner Starre. Er steht auf.

„Melden Sie sich beim Truppenbetreuer.“ Der Oberst reicht ihm noch einmal die Hand. Er weiß nichts mehr zu sagen.

Sven verlässt den Raum.

 

Sven sucht sein Handy. Er findet es mit leerem Akku im Schrank. Seit Tagen hat er niemanden mehr angerufen. Zu den ehemaligen Kumpels hat er kaum noch Kontakt. Und der Anruf bei der Mutter ist immer sonntags. Er muss die Akkus laden. Aber dann ist kein Empfang. Die Antenne in die Heimat macht mal wieder Pause. Sven sitzt auf seiner Schlafliege und sieht blicklos aus dem Fenster der Baracke.

Sven weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Der Truppenbetreuer, der gleichzeitig auch der Pfarrer ist, kommt zu ihm in die Baracke. Sven beachtet ihn nicht. Der Mann in seiner Uniform mit dem Zeichen des Kreuzes versucht ein Gespräch, aber Sven wendet sich ab und beginnt, seine Sachen zu packen. Er mag den Mann nicht. Einmal hat Sven sonntags in diesem provisorischen Gottesdienst gesessen. Am Tage zuvor hatte es Tote im Lager gegeben. Der Pfarrer war an diesem Tage nicht zu sehen. Am nächsten Tag sprach er so schwülstig von ihrem Auftrag, den Menschen hier zu helfen, dass Sven angewidert den Gottesdienst verließ.

Was soll das für eine Hilfe sein? Sie sitzen in ihren Fahrzeugen und erhöhen die Geschwindigkeit, wenn sie eine Ansammlung von Männern in ihren langen Kleidern am Straßenrand sehen. Und die zerlumpten Kinder mit Gummibärchen füttern?

Die Brücke, deren Bau sie überwacht haben, ist noch längst nicht fertig. Die Arbeiter sind eines Tages einfach verschwunden, samt Bagger.

Der Pfarrer redet auf Sven ein. Erst nach einer Weile verstummt er. Einen Augenblick noch steht er unschlüssig herum, dann sagt er: „Wenn Sie möchten, dann können Sie jederzeit zu mir kommen.“ Er wendet sich ab und schließt die Tür hinter sich. Sven ist wieder allein. Er setzt sich auf seine Liege und sieht hinaus auf das Lager.

Sven denkt an seinen Vater. Sie hatten Kontakt. Ja, sie haben sich gesehen. Sven fuhr nach Hause, wenn er in der Heimat war. Die Mutter freute sich immer. Sie schloss ihn in die Arme, ließ ihn nicht mehr los. Besonders als er aus Afghanistan kam. „Junge, was machst du bloß. Warum ziehst du in den Krieg?“

Der Vater sprach nicht mit Sven, seitdem er sich nach Afghanistan gemeldet hatte. Er kam in den Flur, sah einen Augenblick zu, wie ihn die Mutter an die Brust drückte und ging dann, ehe sie Sven wieder von sich ließ, wortlos durch die Küche hinaus in die Garage.

Beim Essen schwieg der Vater. Die Mutter schaute ihn an, stieß ihn auch mal mit dem Ellenbogen an, aber er sagte kein Wort. Er wich seinen Blicken nicht aus, wohl aber wich Sven den Blicken des Vaters aus. Und spürte, wie der ihn lange ansah. Als Sven hochschaute, war der Vater schon wieder mit dem Hackbraten beschäftigt.

Sven wollte eigentlich das ganze Wochenende bleiben.

Am Abend kam der Vater wortlos vom Garten und ging in das Bad. Er wusch sich ausgiebig. Dann, nachdem er sich ein frisches Hemd geholt hatte, sank er, ohne Sven zu beachten, in den Sessel, nahm die Fernbedienung, schaltete die Tagesschau weg und suchte durch die Sender, bis er eine Tierdokumentation fand. Er schaute sie sich an, ohne auch nur einmal Sven anzusehen. Die Mutter stand an ihrem Bügelbrett, wie immer. Sie fragte den Vater, was er denn im Garten gemacht und ob er die Stauden schon eingesetzt habe. Der Vater brummte nur und antwortete auch auf eine nächste Frage nicht. Sven hätte gerne ein Stückchen vom Pokalspiel gesehen. Er wagte es aber nicht zu fragen. Irgendwann stand er auf.

Er ging in das Zimmer, das mal sein Zimmer gewesen war und in dem sich nicht viel veränderte hatte. Kinderspielzeug stand in einer Kiste in der einen Ecke, ein Kinderbett unter dem Fenster. Die Schwester war manchmal zu Besuch. Sie brachte dann den Kleinen mit und der spielte und schlief hier oben.

Sven packte seine Sachen und zog die Jacke über. Es war spät. Er würde mit dem Taxi fahren müssen.

Er ging hinunter in die Wohnstube. Die Mutter saß auf einer Kante des Sessels. Der Vater sah nach wie vor auf den Bildschirm. Die Mutter weinte, als Sven sich verabschiedete. Sie steckte ihm noch zwei Taschentücher, die sie gerade gebügelt hatte, in die Reisetasche. Es waren eigentlich Vaters Taschentücher. Der Vater brummelte nur einen Gruß, schaute aber hoch und seine Augen sahen furchtbar traurig aus. Sven spürte den Blick in seinem Rücken, bis er zur Tür hinaus war.

 

Die Augen, diesen Blick sieht Sven immer noch. Er hätte dem Vater das gerne erklärt, das alles hier. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Sven packt seine Tasche zu Ende.

Der Tag ist grau. Die Temperaturen sind knapp über dem Gefrierpunkt. Sven fröstelt. Er fliegt nach Hause. Die Kolonne wird in vier Stunden abfahren. Dann wird er hinten im Fahrzeug sitzen. Die Kameraden sind zum Dienst. Einer schaut rein, er holt sich die Kaffeetasse aus der Kiste. Seine wird wieder irgendwo verschwunden sein. Immer spielen sie ihm Streiche.

Er ist älter als alle anderen. Er hat die Fünfzig überschritten. Wie alt er wirklich ist, hat er niemandem verraten. Auch warum er sich gemeldet hat, weiß niemand so genau. Er hätte einen Ruhigen schieben können auf seiner Stabsstelle in der Heimat und doch ist er hier.

Sven geht hinüber in den Kantine. Um diese Zeit ist hier kaum jemand. Sven zapft sich einen frischen Kaffee aus dem Automaten und stöpselt sich die Kopfhörer in die Ohren. Der Spieß hat den Automaten einfliegen lassen. Solange die Stromversorgung funktioniert, gibt es Kaffee, danach wieder nur aus den Thermoskannen.

Sven hockt sich in eine Ecke auf die Bank. Niemand spricht ihn an, er spricht niemanden an. Sven schaut mit leerem Blick in den kleinen Bildschirm, der an der Wand über dem kleinen zugehängten Fenster befestigt ist. Dreieinhalb Stunden Zeitverschiebung. Es flimmert das Nachmittagsprogramm. Irgendwelche Schwätzereien. Der Ton ist leise gedreht und nur ab und zu dringt ein Sprachfetzen zu Sven durch. Die Anwesenden, ein Hauptmann und eine Uffzin der Sanis, ein Oberleutnant mit einem Bier in der Hand und zwei Dänen, schauen trotz ihrer Unterhaltung regelmäßig zum Schirm. Es sind Stimmen aus der Heimat. An anderen Tagen hätte Sven auch mehr von der Heimat hören wollen.

 

Die Bank, auf der Sven sitzt, ist hart. Zwischen den Fingern zerkrümelt er achtlos das Weißbrot, das er sich zum Essen geholt hat. Er hat sich mit dem Vater nicht versöhnen können. Der Blick schon immer und dann die Frage, ob er denn Bewerbungen geschrieben habe und wann er sich mal bei einer Firma zur Ausbildung vorstellen wolle. Der Vater hat es nicht begreifen wollen.

 

Sven hat viele Bewerbungen geschrieben.

Dann kam der Musterungsbescheid. Sven tröstete sich damit, dass es nach der Dienstzeit schon klappen würde. Die Entscheidung zwischen Wehrdienst und Zivildienst traf er nicht. Die Kumpels sagten, wie öde es sei, den Omis die Bettpfannen zu leeren. Sein engster Kumpel verweigert auch. Der rutschte durch, hatte eine Stelle im Kindergarten. Hausmeister, nichts Aufregendes. Er würde seine Zeit rumkriegen und dann gut. Sven hatte keine Lust auf sowas. Er ließ es einfach geschehen. Er wurde gemustert. Man fragte ihn, zu welcher Waffengattung er wolle und er zuckte mit der Schulter. Er wäre gern zu den Fliegern gegangen.

Der Vater hatte auch bei der Fliegerei gedient. Er erzählte nicht viel. Wenn im Fernsehen Kriegsbilder kamen, schaltete er sie weg. Die Unteroffizierslitzen und die Medaillen lagen in einer Holzschachtel ganz unten im Schrank. Sven entdeckte sie einmal, als er dort kramte.

Sven wurde eingezogen. Und dann war da nichts. Der Dienst forderte ihn nicht bis an die Grenzen, aber manchmal machte es Spaß. Die Wochen gingen vorüber. Das beengte Wohnen in der Kaserne, laut, schmutzig. Das Geld reichte hinten und vorne nicht. Die Eltern halfen hier und da, aber sie hatten mit sich selbst zu tun. Er konnte nichts von ihnen fordern, wollte es auch nicht. So zögerte er immer weiter.

Die Zeit beim Bund ging dem Ende zu. Er wurde gefragt, ob er noch ein Jahr dranhängen wolle. Ausbildung zum Unteroffizier, Studienplatz nach Wunsch nach der Dienstzeit und einige andere verlockende Dinge. Er hatte nichts Besseres vor, also sagte er zu. Hier war alles geordnet. Die Arbeit interessierte ihn, auch wenn es oft langweilig war und er die Männerabende nicht mehr mochte. Die Ausbildung war eher öde und forderte ihn nicht besonders heraus. Dann wurde er gefragt, ob er für ein halbes Jahr in das Ausland gehen würde. Das Geschwafel – von wegen Kampfauftrag – interessierte ihn nicht, aber es würde mehr Geld geben und er würde etwas von der Welt sehen.

Er wollte endlich raus. Er wollte etwas erleben. Gewissen, Krieg? So schlimm würde es nicht werden. Sein Job würde sich im Lager abspielen. Er war Bildaufklärer, er würde nicht draußen rumlaufen und auf sich schießen lassen müssen. Er würde auch auf niemanden schießen, sie waren ja da, um die Bevölkerung zu schützen und beim Aufbau zu helfen. Sven hatte kein schlechtes Gefühl dabei.

 

Einmal, Sven kam das erste Mal aus Afghanistan zurück, stellte ihn der Vater zur Rede. Er fragte: „Warum gerade das?“ Sven verstand die Frage nicht. Der Vater fuhr fort: „Für diesen Staat in die Fremde, sich totschießen lassen. Warum das? Alles, aber nicht das! Zur Armee gehen, zum Bund, wie man heute sagt, das ist noch zu ertragen, aber für diese Leute nach Afghanistan, wo man nichts zu suchen hat, das kann ich nicht verstehen.“ Zur Mutter sagte der Vater traurig: „Ich habe versagt. Wir haben ihm das Wichtigste nicht beibringen können.“

Sven verteidigte sich nicht. Er stand stumm vor ihm. Er wollte nicht die Sätze wiederholen, wie sie in der Zeitung standen und wie sie sie immer wieder in der Ausbildung hörten. Er hatte es inzwischen auch anders erlebt, dort im fremden Land. Mit dem, was er während der Ausbildungsstunden hörte, hatte das nichts zu tun. Aber das konnte er dem Vater nicht erklären, zumal es keine andere Erklärung gab.

Sven verließ bald das Haus. Von da war keine Unterhaltung mehr mit dem Vater möglich. Sie gingen stumm aneinander vorbei, wenn sie sich im Haus trafen.

Nur selten besuchte Sven die Eltern. Er konnte dem Vater nicht sagen, warum er zum Bund gegangen war. Zu Afghanistan, da hätte er sagen können: Wegen des Geldes. Aber eigentlich hatte er es nur geschehen lassen.

Die Telefoniererei nach Hause wurde dann auch spärlicher. Eigentlich sprach er nur mit der Mutter. Die fragte nach Unterwäsche und ob es auch nicht zu kalt wäre in den Baracken. Sven hatte viel Aufregendes zu berichten. Er erzählte davon nicht viel, war sich nicht sicher, ob er vom Dienst erzählen durfte. Er wollte auch die Mutter nicht zusätzlich mit seinen Geschichten belasten. Die hörten sich aus der Ferne bestimmt viel schlimmer an, als sie hier bei ihm passierten. Schon über das kalte Wasser machte sich die Mutter mehr Sorgen als nötig.

Die Kumpels waren kaum noch zu erreichen und hatten andere Sorgen. Die meisten hatten eine Ausbildung im Westen angefangen. Sie berichteten von der Arbeit, von Freundinnen, von hemmungslosen Nächten und vom täglichen Kampf auf den Straßen auf dem Weg zur Arbeit. Das waren Dinge, da konnte Sven nur mit Andeutungen von seinem Dienst dagegenhalten. Die Kumpels wandten sich bald enttäuscht ab, weil er nicht in die Einzelheiten ging und immer nur das Gleiche von den zerlumpten Kindern und den vermummten Frauen auf der Straße erzählte. Ihre Gespräche wurden kürzer.

Mit der Schwester hatte Sven manchmal längere Gespräche, aber die berichtete mehr über ihren Sprössling, wie er sich so hervorragend entwickelte. Da fielen ihr stundenlang immer neue Einzelheiten ein.

Mit dem Vater sprach er im letzten Jahr gar nicht mehr. Sie konnten das nicht geradebiegen. Sven hätte auch die Gründe nicht nennen mögen. Er fragte sich immer wieder selbst. Es gab gutes Geld. Er hatte einen Job. Er war anerkannt und bekam auch mal ein Lob von seinem Hauptmann. Ein halbes Jahr hängte er dran. Dann noch ein halbes Jahr in der Heimatkaserne und dann würde er anfangen zu studieren. Geologie, terrestrische Erkundung, das wollte er und er wusste es jetzt. Erderkundung, vielleicht mal später zur DLG und Satellitenfotos auswerten. Das wäre es. Das hätte er dem Vater gesagt, wenn er endgültig aus Afghanistan zurück gewesen wäre.

 

Endlich kommen die GI’s. Sie werden den Transport übernehmen. Lärmend besetzen sie einen Tisch. Sie trinken Kaffee und schwatzen über das Wetter und die deutschen Frauen, die so hart zu knacken seien wie Panzerglas. Ein Mann vom KSK kommt noch dazu. Er setzt sich gegenüber in eine Ecke, nippt an seiner Cola und wartet wie Sven auf das Startsignal. Die Waffe hat er gegen die Containerwand gelehnt. Es ist noch eine gute Stunde bis zum Abmarsch.

 

 

 

Rückkehr

 

Als er aus dem Flughafengebäude kommt, ist plötzlich Frühling. Die Linden tragen frisches Grün. Lärmende, hastende, bunte Menschen. Vertraute Laute. Niemand kümmert sich um ihn, niemand schaut ihn von unten, mit von den Wimpern halb verdeckten Augen an.

Die Pforte steht offen. Die Krokusse im Vorgarten sind verblüht. Die Gardinen in den Fenstern sind zugezogen. Die Haustür ist verschlossen. Er sucht den Schlüssel in den Taschen. Klingeln möchte er nicht. Er ist ja hier zu Hause. Es ist früher Morgen. Es ist so still, so friedlich. Die Ruhe möchte er nicht zerstören. Der Sonnendunst liegt über den Feldern. Die Wiesen geben die Feuchtigkeit an die Sonne ab. Es wird ein warmer, sonniger Tag werden.

Im Flur ist es dunkel. Die Stubentür ist angelehnt. Die Mutter findet er im Schlafzimmer. Sie hockt auf dem Bett. Ein paar Kleider liegen auf dem Fußboden. Sachen vom Vater. Ihre Augen sind dick von Tränen. Das ganze Gesicht ist aufgequollen. Sie hat wohl versucht, die Sachen vom Vater auszusortieren. Als Sven eintritt, blickt sie hoch. Sie seufzt, aber sie erhebt sich nicht, so dass Sven unschlüssig ist, wie er sie begrüßen soll. Er möchte sie umarmen, so wie er es immer getan hat, und er möchte es jetzt mehr als sonst. Aber sie erhebt sich nicht.

„Tach, Mutter“, sagt er nur, dann steht er eine Weile unschlüssig in der Tür.

Er dreht um, stellt seine Tasche in sein ehemaliges Zimmer. Die Poster der Fußball-WM hängen noch an der Wand. Der Schrank, in dem seine Sachen gelegen haben, steht noch am selben Fleck. Das Bett ist fein säuberlich gemacht. So hat er das nie hinbekommen.

Die Schwester hockt auf dem Boden und spielt mit dem Kleinen. Als sie ihn sieht, steht sie auf und umarmt ihn. Sie ist still, aber Sven ist überrascht. Sie haben nie ein sehr inniges Verhältnis zueinander gehabt. Sie ist einige Jahre älter als er und war schon aus dem Haus, als er die Schule abschloss.

Seit einigen Jahren lebt sie allein. Gleich nachdem das Kind geboren war, bekam ihr Mann einen phantastischen Job angeboten und ging in die USA. Sie wollte nicht mitgehen. Sie hatte ihre Arbeit und wünschte sich, dass das Kind in Deutschland aufwächst. Sie wollte Sicherheit, zur Not mal die Oma in der Nähe. In Amerika wären sie ganz auf sich gestellt gewesen.

Ein paarmal kam ihr Mann zu Besuch, dann blieb er aus. Sie lebt mit dem Kind in der Stadt. Sie beklagt sich nicht. Sven war einige Male da und sie telefonierten miteinander. Immerhin konnte er sich mit ihr über alles unterhalten.

 

Die Schwester erzählt. Sie ist sachlich. Die Tränen sind schon seit Tagen ausgetrocknet. Sie erzählt, wie sie von der Mutter angerufen worden sei, wie die Mutter stumm in der Stube gesessen habe und wie die Kriminalpolizei versucht habe, sie auszufragen. Aber sie hatte ja nichts gewusst. Es war ohne ihr Beisein geschehen. Die Mutter hatte den Vater gesucht und ihn schließlich auf dem Dachboden gefunden. Er hing direkt vor der Treppe.

Nein, die Schwester hatte auch keine Erklärung. Es wären nur noch drei Jahre bis zur Rente gewesen. Er hatte seine Arbeit und fuhr jeden Tag mit dem Fahrrad. Ja, er hatte den Unfall, musste ein, zwei Wochen zu Hause hocken, aber dann hätte er wieder arbeiten können. Es ging ihm nicht so schlecht.

 

Sven geht im Haus umher. Er geht durch den Garten, schaut eine Weile auf das Feld hinter dem Haus und schließlich landet er doch an der Treppe zum Dachboden.

Auf der Treppe sind, wie sonst auch, die Schuhe abgestellt, immer ein Paar auf einer Stufe. Als kleiner Junge hat er im Winter hier gesessen und gespielt. Das schummrige Licht von oben, die Laute aus dem Haus. Er war abgeschirmt von der Welt und hatte doch eine Tür, die er jederzeit öffnen konnte, wenn die Mutter zum Essen rief oder der Vater nach Hause kam.

Das Haus hatten die Eltern bezogen, nachdem die alten Besitzer verstorben waren. Der Vater arbeitete als Buchhalter in der LPG und verdiente gutes Geld. Sie bauten das Haus nach und nach aus.

Sie waren keine Bauern, sie hatten kein Land. Aber sie pflegten den Garten, hatten einige Reihen Kartoffeln und zeitweise auch immer mal ein paar Kaninchen in einem kleinen Stall hinter der angebauten Garage. Nach der Wende kauften sie das Haus, in dem sie viele Jahre zur Miete gelebt hatten. Der Vater musste den Buchhalterposten aufgeben. Die LPG gab es nicht mehr. Er fand dann Arbeit in der nahen Stadt. In einem Steuerbüro. Bald stieg er zum Büroleiter auf. Er hatte all die großen Klienten, kannte sich aus mit den Zahlen und war schnell im Lernen von neuen Dingen.

 

Sven steigt die Treppe hinauf. Auf dem Balken über seinem Kopf ist ein Kreidestrich. Im Dunklen ist die Markierung kaum zu erkennen. Ansonsten deutet nichts auf das Vergangene hin. Zwei Schritte links von der Treppe steht die große Truhe, dahinter ist ein Bücherschrank mit blinden Glasscheiben. Sven setzt sich auf einen verstaubten Stuhl auf der anderen Seite der Treppe. Es ist still. Von draußen dringen durch das Dach nur die Stimmen der Vögel herein. Erinnerungen wollen nicht kommen. Er ist einfach nur leer.

Als er herunterkommt, hat die Schwester das Essen auf dem Tisch. Die Mutter sieht Sven jetzt und sie wirkt nicht mehr so abwesend. Sie erkundigt sich über seine Heimreise und ob er jetzt bleiben würde. Sven antwortet nur zögerlich.

Die Schwester ist hauptsächlich mit dem Kleinen beschäftigt. Sven fragt nach dem Unfall mit dem Fahrrad. Er bekommt von der Schwester einen vorwurfsvollen Blick, aber keine Antwort. Dabei hat er nur damit angefangen, um überhaupt etwas zu sagen.

Nach dem Essen geht die Mutter still hinaus in den Garten. Sven spielt für ein paar Minuten mit dem Kleinen. Aber er hat keine Ruhe.

 

Sven streift durch die Felder. Er hat es immer getan.

Manchmal war er mit Freunden zusammen, manchmal allein. Er baute einen Holzflieger aus dem Baukasten. Den Baukasten hatte er vom Vater zum Geburtstag bekommen. In der Garage richtete er sich aus einem alten Tisch eine Werkbank her, an der er sägte und klebte. Endlich war das Flugzeug fertig. Er wollte es gleich probieren. Der Vater hatte versprochen mitzukommen, er wollte den ersten Start miterleben. Aber der Vater war nicht da, als er das Flugzeug flugfertig hatte. Sven wollte nicht warten, bis der Vater am Wochenende Zeit haben würde. Er zog los auf seinen Hügel und ließ den Segler aus der Hand. Der flog geradeaus, bäumte sich plötzlich auf und verlor an Fahrt. Er stürzte zurück, bekam wieder genug Luft unter die Tragflächen, nahm erneut Fahrt auf und bäumte sich wieder auf. Der Boden war diesmal nahe und so fiel der Holzflieger beim Zurückstürzen in das tiefe Gras. Das Gras schwächte die Wucht des Sturzes ab. Sven nahm eine Korrektur des Schwerpunktes vor, so wie er es in der Anleitung gelesen hatte. Er startete das Fluggerät noch einmal und dessen Neigung, sich aufzubäumen, war beim nächsten Start nicht mehr so stark. Mit etwas Knete, die er vorsorglich eingesteckt hatte, verschob er den Schwerpunkt noch einmal und dann flog sein Flieger in einem schönen langen Gleitflug. Dem Vater berichtete er stolz seine Erfolge.

 

Sven ist schon weit draußen. Hinter dem nächsten Grashügel geht es hinunter in eine Senke, in der ein kleiner Bach fließt. Im Sommer führt er kaum Wasser, aber jetzt gurgelt er an der Grasnarbe vorbei über die Steine und ein kleines Schiffchen würde bis in den breiteren Bach fahren können.

Sven setzt sich ins Gras und sieht dem Wasser zu. Er hat einige Tage Zeit.

Erst am zweiten Tag, als er es nicht mehr aushält, diese Stille, dieses Herumstreichen, das einzige Lebendige im Haus ist der Kleine, der keine Rücksicht zu nehmen braucht. Sven will sich Beschäftigung suchen, aber es ist alles geregelt. Der Vater hat all die Dinge im Griff gehabt. Es ist keine Arbeit liegen geblieben.

Da steigt Sven wieder auf den Dachboden. Hier oben ist alles düster. Die kleinen Dachluken lassen nur wenig Licht herein. Die elektrische Beleuchtung besteht aus einer am Balken aufgehängten Glühbirne ohne Schirm. Sie ist verstaubt und verklebt und gibt kaum Licht.

Sven sieht sich um. Alte Stühle. Ein alter Kleiderschrank, der noch von der Großmutter stammt. Er war eines der ersten Einrichtungsgegenstände in diesem Haus, aber da konnte Sven noch nicht einmal laufen.

Der Strich am Balken. Sven muss auf einmal schlucken, in den Augen entsteht ein Druck, die Tränen wollen heraus. Er unterdrückt sie, er schluckt und nach einigen wenigen Augenblicken ist es vorbei. Der Kloß im Hals bleibt, ebenso der Druck.

Warum ist er hier hochgekommen? Er hätte es sich sparen können. Der Vater ist tot. Es gibt hier nichts mehr. Es sind nur die Erinnerungen aus der Kindheit. Das Kinderfahrrad, das aus irgendeinem Grunde aufgehoben wurde und ein Globus aus der Schulzeit. Und der Schrank mit den Büchern. Hier hat er in den alten verstaubten Bänden geblättert. Hat die Sütterlinschrift lesen gelernt. Aber die Kindheit ist vorbei. Endgültig vorbei.

Er begreift es nicht. Warum hat sich der Vater erhängen sollen? Er hat noch zwei Jahre bis zur Rente gehabt. Das Haus ist abbezahlt. Es hat ihnen an nichts Wesentlichem gefehlt.

Als er den Stuhl verschiebt, auf dem er sitzt, bemerkt er die Kreidestriche. Jeder Gegenstand hier oben, der im Bereich des Balkens ist, hat eine Markierung auf seinem Standort bekommen. Sven stellt den Stuhl wieder auf seinen Platz. Er will sich die Stelle ansehen, an der der Strick gehangen hat. Ihm fällt auf, dass er dazu den Stuhl verrücken muss. Wenn sich jemand aufhängt, so hätte er einen Stuhl genommen und ihn nach hinten umgestoßen. Hier ist gar kein Stuhl oder etwas anderes gewesen, auf das man hätte klettern können, außer diesem Stuhl hier eben und der steht zu weit weg von der Stelle.

Sven geht wieder nach unten. Er liest den Bericht des Arztes: „Keine Fremdeinwirkung erkenntlich.“ So steht es auch im Polizeibericht, den Sven schon flüchtig gelesen hat. Trotzdem steht nichts in der Nähe, auf das man hätte steigen können.

Sven geht noch einmal auf den Dachboden. Es bleibt dabei. Und er bemerkt noch eine Stelle am senkrechten Balken. Hier ist ein Stück Holz in Hüfthöhe herausgebrochen. Es ist ziemlich frisch. Es kann auch jemand mit einem Gegenstand daran gekommen sein. Irgendjemand hat etwas die Treppe hochgetragen und ist damit am Balken nicht vorbeigekommen.

Sven sucht eine Erklärung. Er braucht eine Erklärung. Schon der Gedanke, dass sich der Vater selbst aufgehängt haben soll, will nicht in seinen Kopf. Wenn er die Gedanken, die er jetzt hat, bis zu Ende denkt, dann wird es für ihn noch unbegreiflicher. Er will den Gedanken, dass jemand nachgeholfen hat, in seinem Kopf nicht zulassen. Ja, dann braucht er nicht zu grübeln, warum der Vater dieses gemacht hat, aber dann steht er noch vor einem anderen Rätsel: Wer hat es gemacht? An den Gedanken, der Vater hätte sich aufgehängt, könnte man sich gewöhnen. Mit der Zeit würde es der Kopf akzeptieren, auch ohne die Gründe dafür zu kennen. Aber dass jemand nachgeholfen hat, das Rätsel sollte lösbar sein. Es müsste gelöst werden. Der Kopf würde vorher keine Ruhe geben.

Im Laufe des Tages geht Sven noch einmal auf den Dachboden. Er hat sich eine Taschenlampe mitgebracht und untersucht die Striche. Er versucht sich vorzustellen, wie es abgelaufen sein könnte, so oder so. Die aufkommenden Gedanken an den Vater verdrängt er. Er hat etwas zu tun. Das hilft. Er kann sachlich einer Sache nachgehen, so als ob er an seinem Kartentisch sitzt, die Ziele einzeichnet, die er auf den Luftbildern ausgemacht hat und nicht darüber nachdenkt, was mit den Zielen dann geschieht, wenn die Kommandeure die Aufklärungsergebnisse in den Händen halten und die Piloten losschicken oder die GI’s.

Zu einem Ergebnis kommt er nicht. Er kann die Gedanken nicht ganz verdrängen. Sie bleiben unbewusst in seinem Kopf. Beide Gedanken in seinem Kopf kämpfen gegeneinander. Er möchte gar nicht in eine Richtung denken, weder in Richtung Selbstmord noch daran, dass jemand nachgeholfen haben könnte. Auf beide Ergebnisse hätte er keine Antwort, er hätte keine Erklärung dafür. Und eigentlich will er gar nicht darüber nachdenken, er möchte es nicht akzeptieren, den Vater nicht mehr zu sehen. Aber er ist sich sicher: Wenn niemand etwas verrückt hat, dann hat jemand nachgeholfen.

Er beschließt, der Sache nachzugehen. Er fährt in die Kreisstadt. Hier ist die zuständige Polizeistation.

 

Sven stellt sich vor. Er muss seinen Ausweis vorlegen. Dann klingelt das Telefon. Der Mann ist sofort vertieft in das Gespräch. Er macht sich Notizen und als er zu Sven aufblickt, überlegt er eine Weile, sagt: „Ja, mache ich.“ Und winkt mit der freien Hand einen Kollegen herbei, der schon seit einer Weile interessiert herüberschaut. Er deutet auf Sven. Es soll „Mach mal weiter“ heißen.

„Du bist der Sven?“, fragt der Herangekommene.

Sven nickt. Er steckt seinen Ausweis wieder ein.

„Ich kannte deinen Vater. Mein Beileid.“ Der Polizist schaut forschend auf Sven.

Der nickt nur. „Da war dieser Fahrradunfall. Vor etwa zwei Wochen, glaube ich. Haben Sie irgendwas darüber?“

„Ein Unfall eben. Ganz normal. Eine Bürgerin rief an. Den Namen muss ich nachsehen. Sie hat deinen Vater gefunden. Er lag bewusstlos am Straßenrand. Dann Rettungswagen, Krankenhaus. Wir haben den Unfall aufgenommen. Ich war im Krankenhaus.“

Der Polizist nimmt Sven an den Schultern und führt ihn an einen Tisch im hinteren Teil des Vorraums. Dann drückt er ihn auf einen Stuhl. „Er ist angefahren worden. Konnte ja keiner ahnen, dass …“, sagt der Mann, räuspert sich und fährt dann fort: „Das Auto fand man im Wald hinter dem Gutshaus. Es war verlassen. Geklaut. Natürlich. Keine Hinweise. Wann werden die schon mal gefunden? Selbst wenn sie irgendwo durch den Blitzer gefahren sind. Das ist hier geklaut worden. Professionell. Gar keine Frage. Das ist nicht irgendwie aufgebrochen worden. Fachmännisch sozusagen. Solche Leute klauen Autos und verschieben sie nach Russland. Muss wohl Zufall gewesen sein, das mit dem Unfall. Obwohl, kommt nicht oft vor, dass man von so einem Auto noch irgendeine Spur findet. Dieses wurde einfach stehen gelassen. Das mit dem Autoklau ist in der Gegend nicht so doll im Augenblick. Ist wohl weiter im Westen schlimmer. Da werden ganze Wagenladungen geklaut, direkt bei den Autohändlern oder vom Gebrauchtwagenmarkt. Das hier war ein Einzelfall. Ein Junge hat’s gefunden. Ist mit dem Fahrrad unterwegs gewesen.“

Der Redeschwall des Polizisten versiegt. Sven wartet noch. Aber es kommt nicht mehr. Er bedankt sich. Der Mann legt ihm die Hand auf die Schulter. „Ich kannte deinen Vater. Ich kannte ihn gut. Dass er sich …“, er räuspert sich, „… so einfach …“

Sven steht auf. „Ja“, sagt er, „deswegen bin ich eigentlich hier.“ Er hat einen Kloß im Hals und räuspert sich. „Gibt es eine Akte, gibt es einen Untersuchungsbericht über den … den Selbstmord?“

„Bei einem Selbstmord gibt es keine Untersuchung. Nicht bei uns. Die Kriminaltechniker vom Bezirk, die haben das, aber da komm ich nicht ran. Nur wenn es einen Prozess geben sollte. Und den würde es nur geben, wenn es kein Selbstmord gewesen wäre.“

Sven geht. Er ist nicht zufrieden. Er ist nicht weitergekommen. Ihn beschäftigen immer noch die Gedanken: Vier Wochen hätte der Vater Pause machen müssen, dann hätte er wieder arbeiten gehen können. Er hätte noch zwei Jahre bis zur Rente gehabt. Es gibt einfach keinen ausreichenden Grund für solch eine Tat. Für Sven unvorstellbar. Er hat den Vater anders gekannt. Depressiv bis zum Selbstmord? Nein, das ist sein Vater nicht gewesen.

Trotzdem will Sven aufgeben. Es lässt sich nicht nachweisen. Die Kriminaltechniker und die Kripo werden ihre Arbeit schon richtig gemacht haben. Vielleicht ist der Stuhl erst nachher verschoben worden und als die Kripo gekommen ist, haben sie es so vorgefunden, wie es jetzt ist.

 

Wieder zu Hause versucht er, die Schwester darauf anzusprechen.

„Nein, ich möchte es nicht wissen. Es ändert nichts.“ Sie beschäftigt sich mit der Wäsche.

„Aber was hast du denn für ein Bild von deinem Vater, wenn du ihm einen Selbstmord zutraust?“

Die Schwester antwortet nicht. Sie bricht ihre Tätigkeiten ab und verlässt das Zimmer.

Sven sieht den Schreibtisch des Vaters durch. Er wartet, bis er sich sicher sein kann, dass die Mutter oder die Schwester nicht zufällig dazukommen können, dann kramt er in allen Schubladen. Er will sich nicht verstecken, aber er will jetzt auch keine Fragen beantworten müssen. Er ist sich nicht sicher, was er sucht. Er ist sich auch nicht sicher, was er finden könnte.

Ein paar Quittungen, Grußkarten zum Geburtstag, Briefmarken – aus dem Briefkuvert gerissen. Eine alte Gewohnheit vom Vater. Da ist immer noch seine Briefmarkensammlung, in die er sich ein- oder zweimal im Jahr vertieft hat. Einen alten Kalender, in dem sich aber nichts Aufregendes findet außer Arzttermine und Geburtstage. Einzelne Bilder von den Kindern, dem Enkel‚ Steuerabrechnungen der letzten Jahre, fein säuberlich abgeheftet.

Der Schreibtisch bietet nichts Aufregendes. Sven geht noch einmal auf den Boden. Er möchte kramen. Er möchte einfach in den Erinnerungen kramen. Auch in denen vom Vater.

In der Truhe, die Vater immer verschlossen gehalten hat, wird er etwas finden. Das altmodische Schloss hat er schnell geöffnet. Der Schlüssel ist in einer Ritze des Schrankes, dort, wo er ihn vor Jahren das erste Mal gefunden und wohin er ihn wieder zurückgelegt hat, aber erst, nachdem er das passende Schloss geöffnet und die Truhe durchstöbert hatte.

Etwas tiefer, unter einigen Fotoalben, findet er einen Umschlag. Es sind großformatige Fotos. Sie zeigen die Stellungen. Sven sieht die viereckigen Häuser mit dem Innenhof, die langen Schatten der wenigen Menschen, die sich auf den Wegen bewegen. Wie er diese Bilder kennt. Als wären sie vorige Woche aufgenommen worden. Eine Kolonne. Deutlich ist aus dem Schatten herauszulesen, was die Menschen dort transportieren. Es sind Frauen mit Körben und Wasserbehältern. Die Bilder sind recht grobkörnig, wahrscheinlich aus großer Höhe aufgenommen. Einige längliche Gegenstände. Panzerfaust oder Stinger-Raketen. Ein Maschinengewehr mit Lafette, verteilt auf zwei Eseln. In der Ecke unten der Vermerk „Streng geheim“ auf Deutsch und auf Russisch. Und eine Nummer. So wie auch Sven die Zahlen auf die Aufklärungsfotos schreiben muss. Auf dem Film wird in Spiegelschrift geschrieben, dann sind sie auf dem Bild positiv zu lesen. Da, auch Koordinaten, ein Fahrzeug, amerikanisch. Der Vater war auch in Afghanistan. Allerdings auf der anderen Seite. Er war bei den Russen. Er hat nie davon erzählt. Sven hat die zerbombte Schule gesehen. Sie war von den Russen gebaut worden. Und war schon zerstört und ausgebrannt, als die Deutschen das Gebiet übernahmen.

In der Truhe findet Sven nichts mehr, was ihn jetzt wirklich interessiert. Er wendet sich dem Bücherschrank mit den blinden Scheiben zu. Der Schlüssel ist nicht verstaubt. Jemand hat den Schrank offen gehabt in den letzten Wochen. Vielleicht haben sich die Techniker von der Kripo dafür interessiert.

Hinter den dicken Wälzern, einer uralten Ausgabe von „Brehms Tierleben“ und dem Konversationslexikon findet Sven einen Hefter, der hier nicht hergehört. Er ist wesentlich neueren Datums.

Er klappt ihn auf und legt ihn auf die Truhe. So kann er im trüben Licht etwas lesen. Es sieht aus wie eine Steuerabrechnung aus dem vergangenen Jahr. Aber das ist es nicht. Er blättert weiter. Kopien von Kontoauszügen mit fremden Namen. Dazwischen Seiten mit aufgeklebten Zeitungsausschnitten. Eine Schlagzeile lautet: „Betriebsauflösung nach Erhalt von Fördermitteln.“ Der Artikel berichtet von einem Eigentümer, der sich abgesetzt hat, als er die Fördermittel zurückzahlen sollte.

Sven blättert Seite für Seite durch. Dann liest er genauer. Die Notizen des Vaters sind zum Teil unleserlich im trüben Licht. Sven versteht nicht alles. Einer aus der LPG hatte einen Antrag auf Fördermittel an das Land gestellt. Die Schweinemast der LPG hatte einen guten Stand. Die Fachleute waren da gewesen, der Betrieb lief gut. Es hätte nur etwas Geld gefehlt, die Anlage auszubauen und auf westlichen Standard zu bringen. Er bekam keine Fördermittel, weil das Eigenkapital fehlte. Dann war da einer aus dem Westen und der bekam Fördermittel. Allerdings auch einen Kredit von der örtlichen Sparkasse.

An der letzten Seite ist ein Zettel angehängt: „Subventionsmittelbetrug. An Wichert übergeben.“ Es ist  des Vaters Handschrift.

Sven blättert noch einmal zurück. Er versteht es noch nicht. Wieso Subventionsmittelbetrug? Da hat der aus dem Westen einen Kredit bekommen und der ehemalige Leiter der Schweinemast nicht. Das ist schäbig, aber so läuft die Sache nun mal. Die Chefs in den Bankfilialen sind inzwischen ja auch fast alle aus dem Westen. Und Übung im Geldbeschaffen haben die auch mehr. Aber das wäre noch kein Betrug.

Sven braucht mehr Licht. Er nimmt die Mappe mit nach unten.

Er sitzt noch im Wohnzimmer, als die Schwester kommt. Sie schaltet den Fernseher ein und lässt sich in den Sessel fallen. „Was hast du denn da? Siehst du dir alte Schulhefter an?“

Sven hat die Story langsam begriffen. Der Wessi hat den Betrieb gekauft und ihn dann verwahrlosen lassen. Er hat die Fördermittel eingestrichen und keinen Pfennig investiert. Er hat verkauft, was zu verkaufen war und ist mit Fördermitteln und Erlös nicht etwa verschwunden, sondern hat sich zum Baudezernenten der Stadt machen lassen.

„Ich habe etwas gefunden.“

„Was hast du gefunden?“

„Vater hat hier eine Materialsammlung über eine riesige Sauerei. Vielleicht ist das der Grund. Ich meine, warum er sterben musste.“

„Ich habe dir gesagt, du sollst es lassen. Selbst, wenn da was ist. Es macht ihn nicht wieder lebendig. Was machst du da? Er ist tot, das lässt sich nicht rückgängig machen.“

Sie wendet sich von ihm ab, aber er lässt nicht locker: „Möchtest du es nicht wissen?“

„Nein, ich möchte es nicht wissen. Es ändert nichts.“ Sie beschäftigt sich mit der Wäsche.

„Aber was hast du denn für ein Bild von deinem Vater, wenn du ihm einen Selbstmord zutraust?“

„Er hatte eben genug. Er hat immer gehadert mit den Verhältnissen. Er ist nicht damit zurechtgekommen. Er wollte immer, dass es so wird wie früher. Er hat sich nicht damit abgefunden.“

Sven starrt vor sich hin. „Aber so vielen geht es so, dir doch auch, und trotzdem lebst du weiter. Und die Mutter.“

„Wir sind eben anders.“ Sie wendet sich ihm zu. „Du, Brüderchen, du hast dich doch am wenigsten dafür interessiert, was vorher war, du hast es doch gar nicht erlebt. Du bist zur Fahne gegangen, zum Bund, und hast dich einen Scheißdreck darum geschert, ob du Vaters Gefühle verletzt. Er hatte gehofft, du würdest einen ordentlichen Beruf erlernen. Sie haben hier zusammengekratzt, damit du studieren kannst und du bist freiwillig nach Dingsda gegangen. Das hat er nicht vertragen. Er hat gelitten. Sie haben die Briefe gelesen und sie haben gelitten.“ Sie macht eine Pause. „Also denk mal darüber nach. Aber was auch immer du herausfinden willst, lass es ruhen. Du kommst nicht dagegen an. Sie hätten es untersuchen können, aber sie haben es nicht untersucht. Es kümmert sie nicht. Also lass es. Das ist so schwer genug.“

Sven ist aufgestanden. Jetzt ist ihm zum Heulen zumute. Aber das möchte er der Schwester nicht zeigen. „Ich werde nachforschen.“

„Mach, was du willst, aber lass deine Mutter und auch mich damit in Ruhe. Sie braucht Ruhe, bis sie es verkraftet hat – wenn sie es überhaupt verkraften kann. Und ich muss mich um den Kleinen kümmern. Ich muss arbeiten und mich um den Kleinen kümmern. Das ist alles, was wir schaffen.“

 

 

Rechtsanwalt Wichert

 

Es ist nicht eine der großen Kanzleien. Ein unscheinbares Schild am Hauseingang. Das Haus sieht etwas vernachlässigt aus, hier inmitten der neuen wärmegedämmten Fassaden mit den schmucken neuen eichenen Eingangstüren. Es ist immer noch erste Wohngegend in der kleinen Stadt. Die neuen Honoritäten sind hinausgezogen vor die Stadt. Sie haben sich dort kleine Villen hingebaut. Die Alteingesessenen und die, die es sich leisten können, haben hier, gleich am Marktplatz, ihr Stadthaus. Die Gassen rund um den Mittelpunkt des Städtchens sind gleich nach der Wende neu gepflastert worden.

Sven klingelt. Der Summer ertönt und nach leichtem Druck springt die Eingangstür auf. Der dunkle, aber edel getäfelte Hausflur, die halbe Treppe hoch, dann steht er im Vorzimmer. Eine nicht mehr junge Frau legt die Schürze ab, die sie eben noch umgebunden hatte. Sven steht etwas unschlüssig im Zimmer. „Ja, es geht auf Mittag zu und der Herr Rechtsanwalt besteht auf sein gutes Essen.“ Ein leichter norddeutscher Zungenschlag.

Sie lächelt Sven breit an. „Sie wollen zum Doktor Wichert, nehme ich an? Wen darf ich anmelden?“ Sven nennt seinen Namen. Die Frau verschwindet hinter einer Tür, ist aber gleich zurück. „Kommen Sie, junger Mann! – Kaffee?“ Sie weist auf die Tür.

Der Mann sitzt breit und beschäftigt hinter seinem eichenen Schreibtisch. Er schaut kurz über den Brillenrand, brummt und deutet mit der freien Hand auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Ein dunkler tiefer Stuhl mit ledernem Rückenpolster, die Sitzfläche aus dickem Schweinsleder ist dunkel und auch schon ein wenig abgeschabt. Schreibtisch und Stuhl nehmen fast den halben Raum ein.

Der dunkle Eindruck des Zimmers, durch dessen einziges kleines Fenster nur wenig Licht von der Gasse her hereinfällt, wird durch die dunkle Eichenmöblierung verstärkt. Schränke voller Bücher hinter den Glasscheiben der Türen füllen die eine Seite des Zimmers aus.

„Viel zu tun. Wie kann ich helfen?“ Der Mann wälzt sich aus seinem Sessel hoch. „Entschuldigen Sie, guten Tag, ist Ihnen Kaffee angeboten worden?“ Der Rechtsanwalt streckt ihm die fleischige Hand entgegen.

Sven schnellt aus seinem Sessel hoch. Er ist rot geworden. Er drückt die Hand.

„Oder möchten Sie lieber einen Hartgebrannten?“ Sven wehrt überrascht ab. Der Rechtsanwalt lässt sich zufrieden auf den Sitz zurücksinken. Seine Hände hat er dabei flach auf die Schreibfläche gelegt. Er schaut auf die Wanduhr. „Aber es ist wohl noch ein bisschen früh. Was kann ich für Sie tun?“

„Doktor Wichert“, beginnt Sven, „ich habe hier eine Materialsammlung. Ich verstehe nicht viel, aber es muss einen ungeheuren Skandal geben. Mein Vater hat da was gesammelt. Ich fand Ihren Namen.“ Sven beugt sich hinunter, um den Hefter aus seiner Tasche zu nehmen.

„Halt, junger Mann.“

Sven hält inne.

„Was, ganz konkret, möchten Sie von mir?“

„Sie sollen das lesen.“

„Wenn ich etwas lese, dann habe ich einen Fall.“

Sven schaut ratlos.

„Sie haben angedeutet, dass es sich sehr wahrscheinlich um brisantes Material handelt. Sie möchten, dass ich das lese. Was soll dann passieren? Soll jemand angeklagt werden? Wollen Sie einen Prozess führen?“

Sven hebt hilflos die Arme. Er hat noch keine Antwort. Er wollte doch nur wissen, was da steht und warum der Vater das alles gesammelt hat. Das sagt er dem Rechtsanwalt.

Wichert legt die Unterarme auf den Tisch, lehnt sich nach vorne und faltet die Hände.

„Wir können Folgendes machen.“ Er räuspert sich. „Ich lese die Dokumente. Sie unterschreiben eine Erklärung, das können Sie im Vorzimmer tun. Mir entstehen keine Verpflichtungen daraus. Wenn ich merke, dass es nichts ist, was mich interessieren könnte, dann holen Sie den Kram wieder ab und ich habe es nicht gekannt.“ Eine Pause. „Ich mache das nur, weil ich Ihren Vater gekannt habe. Ich habe ihn gut gekannt. Mein Beileid, Junge.“ Wieder eine Pause. Der Rechtsanwalt kramt für einen Augenblick auf seinem Tisch. Dann zieht er den Schub auf seiner Seite ein wenig auf und schiebt ihn sofort wieder zu. „Sie lassen einen Vorschuss von fünfhundert Euro im Vorzimmer. Sie können den im Laufe des Tages vorbeibringen, wenn Sie nicht so viel dabei haben. Eine Quittung bekommen Sie, wenn ich den Fall, wenn es denn ein Fall wird, annehme. Wenn Sie mit diesen Bedingungen einverstanden sind, legen Sie das Material im Vorzimmer ab. – Guten Tag.“

Sven will etwas sagen. Eine Handbewegung des Rechtsanwaltes schneidet ihm das Wort ab, bevor es Gelegenheit hat, seinen Mund zu verlassen. Der Mann stemmt sich aus dem Sessel hoch und reicht die Hand zum Gruß über den Tisch.

Sven bleibt nichts weiter übrig als ebenfalls aufzustehen und die Abschiedshand zu drücken. Beim Hinausgehen spürt er den Blick des Mannes in seinem Rücken.

Die Sekretärin legt ein vorbereitetes Blatt mit der Aufschrift „Im Falle der Übernahme des Mandats …“ vor sich auf den Tisch.

„Hier unterschreiben, bitte“, sagt sie. Das breite Gesicht schaut ihn freundlich an. „Machen Sie sich keine Gedanken, er ist immer so.“ Sie zeigt auf die Stelle, wo Sven unterschreiben soll. „Dafür nimmt er es aber auch ziemlich genau“, ergänzt sie.

Sven beugt sich über das Blatt und unterschreibt. „Die fünfhundert …“, beginnt er, aber die Frau nimmt ihm das Blatt weg. „Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Bringen Sie es im Laufe der Woche vorbei.“ Sie sieht auf die Unterschrift. „Sie können auch in Raten zahlen.“

Sven legt seine Mappe ab. Es ist entschieden. Die Frau hat ihm die Entscheidung abgenommen. Bei dem dicken Mann da drinnen ist Sven unschlüssig gewesen, aber die Frau hat ihm einfach die Entscheidung abgenommen. Sie hat zum Rechtsanwalt Vertrauen und auch zu Sven.

„Er meldet sich“, sagt sie. „Schreiben Sie eine Telefonnummer auf den Zettel.“

 

Dann ist Sven wieder draußen. Er atmet die Luft tief ein. Das Haus hat etwas Bedrückendes gehabt. Einzig die Freundlichkeit der Frau hat die Dunkelheit etwas aufgehellt und ihm ist jetzt, nachdem er die Schriftstücke jemandem anvertraut hat, etwas wohler.

Er fragt die Schwester, ob sie ihm zweihundert Euro borgen kann. Sie sieht ihn sekundenlang wie einen geistig Verwirrten an. Dann holt sie ihr Portemonnaie. Sie gibt ihm fünfzig Euro. Von der Bank holt er zweihundert Euro, die trägt er in das Vorzimmer des Anwalts. Er bekommt eine Quittung, aber keine Auskunft.

Als die Schwester ihn am Schreibtisch des Vaters findet, wie er gerade alte Fotos durchsieht, sagt sie zu ihm: „Lass es ruhen.“

 

Sven bricht sofort auf, als das Telefongespräch beendet ist. Doktor Wichert kommt ihm diesmal bis zur Tür entgegen, nachdem er angemeldet worden ist. Sven sitzt wieder auf dem ledernen Stuhl.

„Was Sie hier haben, reicht für eine fast lückenlose Beweisführung“, beginnt der Rechtsanwalt. „Ist aber gefährlich. Sie fassen damit einigen Leuten, die noch im Amt sind …, na ja, die werden nicht gerade begeistert sein.“ Der Mann blickt Sven aufmerksam an, wartet wahrscheinlich auf eine Antwort. Bevor er weiterspricht, schiebt er sich ein wenig im Sessel zurecht. „Sie nehmen an, dass es mit dem Tod Ihres Vaters zu tun hat?“

Sven nickt, zieht dann aber die Schultern unschlüssig hoch.

„Das lässt sich leider hiermit nicht beweisen. – Er lässt sich auch nicht mehr lebendig machen, Ihr Vater. Die Untersuchung zu seinem Tode ist abgeschlossen. Da habe ich mich erkundigt. Wenn Sie einen Rat von mir wollen: Stellen Sie die Hinterleute an den Pranger. Ich kann Ihnen dabei helfen. Das schadet denen. Bis zum Verlust aller Ämter. Den eventuellen Mörder zu suchen und dann auch noch zu beweisen, das wird bei allem Vertrauen“, er macht eine Pause, „zur hiesigen Polizei und Justiz wenig Sinn machen.“

Der Rechtsanwalt schiebt die Akte auf dem Tisch ein wenig zu Sven hin.

„Und was kann ich jetzt machen?“

„Bringen Sie es an die Öffentlichkeit. Ein Schreiberling wird sich finden, der daraus eine blutige Story macht. Die Beweismittel sind hier, also kann die Story rechtlich abgesichert werden. Es wird eine Anklage von Amts wegen geben, wenn die Story kommt. Mehr können Sie nicht erwarten und tun.“

Doktor Wichert schiebt die Mappe jetzt ganz zu Sven hin. „Suchen Sie sich eine Zeitung, ziehen Sie die Leute in den Schmutz, dahin, wo sie sowieso sind. Ich kenne da auch den einen oder anderen. Ich werde hier und da ein Wort fallen lassen.“ Der Rechtsanwalt verzieht das Gesicht nur ganz leicht zu einem Schmunzeln. „Sollte es zu rechtlichen Angriffen gegen die gesammelten Materialien kommen, dann werde ich Sie vertreten. Mehr kann ich jetzt nicht tun. Sie müssen etwas tun.“

 

 

Baumann

 

Baumann. Sven hat ihn nie gemocht. In der Schule war er immer der Liebling der Lehrer. Er saß in der ersten Reihe, manchmal hatte man den Eindruck, die Sitzreihen dahinter würden den Lehrer gar nicht interessieren. Sven war das recht. Er konnte sich mit seinem Kram beschäftigen. Baumann war der Erste, der mit dem Auto vor die Schule fuhr. Kaum war der achtzehn, hatte er in Rekordzeit seine Fahrschule hinter sich und besaß ein Auto. So eine kleines, aber neu gekauftes. Die Oma hatte es ihm geschenkt. Vorschuss auf bestandenes Abitur. Er musste nur zweihundert Meter zur Schule laufen. Aber er fuhr mit dem Auto vor. Ein Auto war für Sven in dieser Zeit unerreichbar. Sven arbeitete in den Ferien aushilfsweise im Supermarkt. Die Mutter kannte die Leiterin. Er musste arbeiten, um seine Handykosten zu bezahlen.

Das Auto hätte Sven nicht gestört, aber dass die Mädchen sofort bei Baumann im Auto saßen, das nahm er ihm übel. Dieser Baumann, so ein schmaler Kerl, der beim Fußball höchstens mal umgerannt wurde, aber nie an den Ball kam. Der hatte plötzlich die Girls. Das nahm ihm Sven übel.

Nach dem Abitur verloren sie sich schnell aus den Augen. Einmal war noch Einjährigen-Feier, weil sie das Abi geschafft hatten. Sven wusste nicht, was Baumann nach dem Abi machte. Nur als er dann einmal den Namen unter einem kleinen Artikel in der Regionalzeitung las, da staunte er. Baumann war Redakteur an der Regionalzeitung.

Und genau so etwas braucht Sven jetzt.

 

Sven betritt das Gebäude. Im unteren Stockwerk ist ein Verkaufsraum. An den Wänden hängt überall Werbung, Zeitungen stehen in einem Ständer. Eine Frau sitzt hinter einem Schreibtisch aus Glas. Nicht mehr ganz jung, mit ausladenenden Hüften. Sie spricht ihn auf seine Wünsche an. Sven erkundigt sich nach Herrn Baumann. Die Frau greift zum Telefon. Schon nach kurzer Zeit geht die Tür auf. Norman Baumann steht vor ihm. Schlips, graues Jackett, schwarze Hose. Ganz der Mann von Welt. Sven kommt sich mit einem Mal schäbig vor in seiner abgewetzten Jeansjacke und den Cargohosen.

Baumann streckt ihm die Hand entgegen. Er grinst über das ganze Gesicht. Sie halten sich nicht mit Vorgesprächen auf. Baumann nimmt ihn mit hoch in sein Büro. „Ich bin stellvertretender Filialleiter. Hat nur zwei Jahre gedauert.“ Baumann bittet ihn mit einer ausladenden Geste, sich in den Sessel am Clubtisch zu setzen. „Was kann ich für dich tun?“

Sven klappt die Tasche auf. Er hat Kopien gemacht. Sie füllen zwei Hefter. „Hier ist was zu lesen. Ist, glaube ich, gut für eine Titelseite.“

Baumann ist überrascht.

Sie unterhalten sich noch über das eine und andere. Baumann fragt, Sven antwortet. Baumann spricht ihm das Beileid aus, Sven dankt. Baumann will mehr wissen über Afghanistan. „Vielleicht mal ein Bericht für die Zeitung, damit die Leute wissen, wie es wirklich ist, Bericht von der Front sozusagen …“ Er lacht über den Witz. „Oder darfst du nichts erzählen, ist ja wohl sehr geheim?“

Sven sagt zu.

Nach dem Material fragt Baumann nicht, aber er verspricht, es zu lesen und sich sehr schnell zu melden. Sven verspricht ein Interview über Afghanistan beim nächsten Treffen.

Sven wartet auf den Anruf. Er steht morgens auf. Wäscht sich, trinkt einen Kaffee und geht hinaus in die Wiesen. Das Wetter ist ruhig, wenn auch nicht besonders warm. Er sitzt einige Zeit am Bach. Lässt Schiffchen fahren und wandert dann wieder zurück.

 

 

Schluss

 

Ein BMW steht vor dem Gartenzaun. Die Mutter ist in der Küche. Baumann sitzt im Wohnzimmer. Er blättert in einem Buch, hat einen Kaffee vor sich. Die Mutter hat ihm wohl einen gebracht.

Sven erzählt von Afghanistan. Vom Camp und den verschiedenen Nationen, von der Fahrt durch Kabul und den bettelnden Kindern, denen sie Bonbons zugeworfen haben. Baumann schreibt in seinen Notizblock. Er ist begeistert. Er will von der humanistischen Hilfe hören und Sven erzählt von der Brücke. Auch von dem Angriff auf ihr Fahrzeug muss Sven noch erzählen, dann ist der Notizblock voll und Baumann lehnt sich zufrieden zurück.

Sven fragt nach der Materialsammlung, die er Baumann gegeben hat.

„Hör zu, Sven, wir sind eine Regionalzeitung. Wir könnten auf der vierten Seite eine Reportage über Afghanistan bringen. Für Enthüllungsstorys sind wir jedoch nicht zuständig. Das macht die Bild oder Superillu. Tut mir leid. Ich hab’s aber dem Chefredakteur gegeben.“

Sven bringt Baumann bis zum Gartentor. Plötzlich wünscht er sich zurück in das Camp, in die Langeweile, in den Container mit den Bildschirmen, nichts um sich herum als die Bilder auf dem Auswertetisch, die er sich ansehen und aus denen er einen Bericht machen muss. Er vertreibt sich die Tage mit Wanderungen. Das Wetter ist schlechter geworden. Wenn er durchgeweicht von draußen kommt, dann lässt er die nassen Sachen in der Garage und nimmt sich, in eine Decke gehüllt, ein Buch aus dem Regal. Wie früher sitzt er unter dem Fenster auf dem Boden, bis das Tageslicht zu schwach wird zum Lesen.

Sein Urlaub ist zu Ende. Er sucht die Zeugnisse zusammen und hat auch schon eine Bewerbung geschrieben. Am nächsten Morgen wird er in die Kaserne zurückfahren. Er geht noch einmal hinaus. Während er über die Wiese geht zu der Stelle, an der er das erste Mal mit dem Vater ein Schiffchen den Bach hinunter gestartet hat, horcht er in sich hinein. Es ist ihm egal. Es sind keine Gefühle da. Als er zurückkommt, ruft ihn die Mutter. Sie kümmert sich wieder um ihren Haushalt und hat ihm Sachen zurechtgelegt. „Ein Herr Baumann hat angerufen.“

Sven zögert, aber er ruft dann doch zurück.

„Ich habe mit dem Chefredakteur gesprochen. Wir werden das bringen. Im Vertrauen, der Chef kennt den Mann. Hat ihn wohl persönlich angepisst. Ermittlungen wegen Betruges laufen. Wir brauchen eine Story, du hast Glück.“

Sven will etwas fragen, aber Baumann redet weiter.

„Kann ich das Material so verwenden? Muss natürlich noch mal gründlich recherchiert werden. Hab’s als meines ausgegeben. Hast wohl nichts dagegen.“

Sven will Baumann noch sagen, dass er die Afghanistan-Artikel nicht gut findet, weil sich alles so heroisch anhört. Aber Baumann hat schon aufgelegt. Die Wahrheit über den Krieg hat er bringen wollen, aber stattdessen hat er geschrieben, wie heroisch das alles ist und wie Deutschland den Leuten dort hilft. Svens Erzählung hat er einfach so umgedeutet, wie es am besten in sein Blatt passt. Und wahrscheinlich, wie es dem Chefredakteur am besten gefallen hat. Und Sven hat keine Chance gehabt, das noch zu ändern. Selbst ein Protest bei Baumann würde nicht mehr helfen. Sven kommt sich verraten vor und hilflos. „Da kann man sich nur aufhängen“, denkt er und erschrickt heftig.

Sven ist dabei, seine Sachen zu packen. Die vierzehn Tage seines Urlaubs sind um. Er wird in die Kaserne zurückkehren. Nicht für lange.

(c) Detlef Raupach